Angelika
 Eli
 Kopf hoch
 Eli

 

Das Schnurren des ICE und die Unmengen von Landschaft, die durchs Fenster auf sie einstürmen, machen sie müde. Die Augen schließen und von was Schönem träumen, das wär's, doch das Schöne will sich nicht einstellen. Was ist das überhaupt? So, wie sie nun am Rande des Nichts steht und langsam versucht hineinzuschauen, da wird das Schöne etwas sehr Unwahrscheinliches, vielleicht nur noch ein Wort ohne Inhalt. Sie will auch nicht mehr dorthin hoffen. Die Leere ganz durchschreiten, das und nur das bringt Aufschub und vielleicht  Veränderung. Alle Hoffnung verknüpft sich damit, wie bei diesen Spielchen, wo durch rütteln und schütteln die Maus ins Loch befördert wird, so fühlt sie sich.
Sie ist Maus und Spieler gleichzeitig.
So wankt sie ins Nichts. Verschiedenes wird noch aufgegriffen, angesehen und dann ziemlich schnell wieder fortgeworfen. Nichts besteht die Prüfung, keine Kunst. Manchmal treibt sie schon ein Stück und das verschafft gewisse Befriedigung. Spazieren gehen kann da hin führen oder Bahnen schwimmen. doch der größte Teil des Tages ist öde Wüste. Morgens liegt sie vor ihr und abends , da liegt sie immer noch vor ihr und hinter ihr, na ja halt überall.
Ab und zu bricht an irgendeiner Stelle unvermutet ein Damm und dann überflutet sie plötzlich ein schmerzliches Gefühl. Wörter wie Sehnsucht oder Hoffnung oder Liebe fallen ihr dann ein und scheinen mit etwas in ihrem Leben verbunden zu sein. Manchmal scheint es eine Verbindung zur Kunst zu geben, d.h. eine Musik oder ein Bild oder ein Satz stellen sich ein.

Künstlerin sein, das fliegt über ihr hoch oben im Himmel ganz weit weg und glänzt so schön. Hier unten auf der Straße vor ihr, da liegen die geschriebenen Wörter, die gesungenen Lieder und die gemalten Bilder. Sie sind zum Anfassen, sie müssen betrachtet werden und werden dann auch beurteilt. Ganz streng. Ganz peinlich berührt sie ihre Realität, wie sie so verwirklicht daliegen, die Kunstprodukte und sich nicht mehr beträumen lassen. Schamhaft werden sie verheimlicht. Posthum, da dürfen sie vielleicht sein, da braucht sie dann nicht mehr zusehen und erröten.

Im Zug neben Marie ein schreiendes Kind. Hochroter Kopf wankt durch den Zug und fällt und schreit und fällt und schreit. Die verzweifelte Mutter lässt es nicht schlafen, nimmt es, setzt es, stellt es, legt es immer wieder im Kreis und stopft es voll. Das Kind isst aus Verzweiflung über das Nicht-schlafen-Können. Das Rütteln des Zuges ist ganz in ihm, es kann sich nicht verschließen dagegen.

Der Kirschgarten in Boppard am Rhein

Nie wieder hatte sie so viele riesige Glaskirschen auf einmal gesehen und gegessen, wie in diesem wilden Kirschgarten in Boppard am Rhein. Nie wieder ist sie dort gewesen, seit der Jugendfahrt 1974. Fünf Tage, die aus dem pubertären Grau dieser Zeit herausragen und unter die schönen Erinnerungen gehören. Dabei sind von diesen Tagen nur noch Fetzen vorhanden, der Kirschgarten eben, in den sie unerlaubt eingedrungen sind mit ein paar Mädchen. Den Bauch haben sie sich vollgeschlagen, immer in Angst, erwischt zu werden. Pfarrer Heitmann, der Gruppenbetreuer, war weit weg und so erzählten sich die Mädchen mit Kirschen im Mund und Saft am Kinn kleine Geheimnisse von Schwärmereien und zögernden Küssen.
Marie gehörte leider immer zu den Mädchen mit wenigen und eher peinlichen Erfahrungen. Zum Beispiel ihr erster Kuss von Bernd, der ihr seine riesige Zunge in den Mund quetscht im Beisein seiner Kumpels und hinterher so tut, als habe sie sich ihm aufgedrängt. Heute noch könnte sie das beschämt und wütend machen. Oder Antonius, mit dem sie Kaugummiaustausch durch küssen übt, was auch nicht romantischer war. Und Michael, der Gedichte schreibt und so schöne blaue Augen hat, der will nichts von ihr wissen, der ist auf lange braune Haare und dünne Beine festgelegt. Dabei könnte sie mit ihm über Kafka reden, über Dickens und Proust, dabei ein Shillum durchziehen und würde sich dabei auf seinem Sofa überall von ihm anfassen lassen.

Mit Boppard verbindet Marie außer dem Kirschgarten auch noch einen wunderschönen sehr alten Friedhof. Dabei ist sie sich nicht sicher, ob er wirklich dort ist. Sie weiß nur noch, dass sie in ihrer Jugend einen solchen Friedhof gesehen hat, der seitdem ihr Friedhofsideal sehr stark bestimmt. Am Berg gelegen, mit großen alten Bäumen, kurvigen Wegen und großen Grabsteinen, mit vielen Figuren drauf und vielen Namen und Daten. Mit ganz, ganz vielen Blumen und Vögeln und wenig lebenden Menschen, aber vielen Ruhebänken, auf denen sie sitzen und über die verflossenen Leben phantasieren kann, die hier wieder zu Erde wurden.

Gleich hält der Zug in Boppard und schnell springt Marie auf, nimmt ihr Bündel und strebt dem Ausstieg zu. Der Friedhof will gefunden werden.