Angelika Göken

 

Menschen die sich treffen und lieben

aus der Seele sprechen

 

Ein Interview von Julia Varley  

Übersetzung: Kirsten Bohle und Stefanie Schröder

 

Wann hast du mit der Theaterarbeit angefangen?

Mein Interesse für das Theater stammt aus meiner katholischen Kindheit. Ich mochte die Prozessionen, die Gottesdienste und die Meditation. Als ich entschied, nichts mehr mit der katholischen Kirche zu tun zu haben, konnte ich dem Ritual im Theater wiederbegegnen.

Als ich das erste Mal eine Aufführung sah, war ich zwanzig Jahre alt. Ich sah König Lear von einer deutschen Theatergruppe. Es war langweilig. Einige Jahre später sah ich in Bielefeld eine Straßenparade vom Teatro Nucleo. Ich wusste nichts über diese italienische Gruppe. Plötzlich öffneten sich Fenster und von allen Seiten erschienen Trompeten, Stelzenläufer, Feuer, Musiker und Tänzer. Ich dachte: „Wow! Ja!"

Ich studierte Pädagogik und nahm an einigen Workshops teil, wusste aber nicht wirklich, was ich machen wollte. Ich interessierte mich dafür, in engem Kontakt mit anderen Menschen und mit Bewegung zu arbeiten. Ich traf Siegmar Schröder an der Universität und nahm an einem Workshop von ihm teil. Es war anspruchsvolle und schwierige körperliche Arbeit. Ich liebte es. Später sah ich viele Theateraufführungen, und nach und nach wuchs mein Interesse am Theater. Ich kann nicht sagen, dass es einen bestimmten Punkt gab, an dem ich beschloss, im Theater zu arbeiten. Ich dachte nie, dass ich eine Schauspielerin sein könnte und war nicht wirklich daran interessiert, eine zu werden.

 

Wann habt Ihr Eure Gruppe gegründet, das Theaterlabor?

Wir gründeten das Theaterlabor vor zwanzig Jahren. Siegmar war in Italien gewesen und kehrte 1983 zurück. Wir waren in Kontakt geblieben und als wir uns wiedertrafen, sagte er mir, dass er eine Theatergruppe gründen wollte. Ich hatte mein Studium beendet und hatte verschiedene Jobs. Ich sagte: „O.K., ich bin dabei." Siegmar, Karin, ein paar andere Leute und ich begannen, in der Universität zu arbeiten. Wir hatten einen kleinen Raum ohne Fenster. Wir fingen an, Aufführungen auf der Basis von dem zu entwickeln, was Siegmar gelernt hatte. Zu Anfang trafen wir uns einmal die Woche, dann zweimal, dann dreimal die Woche, und schließlich jeden Tag. Ich beschloss nie, dass ich für den Rest meines Lebens Theater machen würde, ich fand nur, dass es einen Versuch wert war, dass es besser war als im Altersheim zu arbeiten oder Ähnliches.

 

Wann hast Du Dich selber als Schauspielerin begriffen?

Ich bin keine typische Schauspielerin. In meiner Jugend war ich sehr schüchtern und eher ein Mauerblümchen. Ich war nicht gut! Es war nicht so wichtig für mich, vor Leuten auf einer Bühne zu stehen. Als wir zu spielen anfingen, mochte ich es die ersten Jahre lang nicht. Ich dachte, ich sei zu schlecht und nicht hübsch genug. Das Interessanteste in diesen ersten Jahren Arbeit mit dem Theaterlabor war für mich, in unserem fensterlosen Raum zu sein und zusammen mit fünf oder zehn anderen Leuten hart zu trainieren, zu schwitzen und wunde Stellen zu bekommen, mit meinem Körper und seinen Möglichkeiten zu kämpfen, und dann zur Improvisation überzugehen. Ich liebte die Improvisationen, die wir machten. Es war eine Möglichkeit zu spielen und mich selbst zu erfahren – meinen Körper und Geist als Ganzes. Das war es, was ich tun wollte.

 

Was überzeugte dich davon, Schauspielerin sein zu können?

Das war ein langer Prozess. Mit den Jahren entwickelte ich ein Interesse daran, dass Zuschauer unsere Stücke sahen. Es gefiel mir, wenn ich gute Auftritte hatte, aber ich freute mich genauso, wenn einer meiner Kollegen eine gute Idee hatte oder eine starke Szene spielte. Es war nicht wichtig, dass ich vor der Öffentlichkeit spielte, sondern dass, wer immer es tat, dabei authentisch war und aus seiner oder ihrer Seele sprach. Nach zehn Jahren wurde mir klar, dass ich keine schlechte Schauspielerin war! Ich konnte gut sein! Ich war mit einigen meiner Auftritte zufrieden. Heutzutage hat sich das wieder verändert und ich bin nicht wirklich daran interessiert, auf der Bühne zu sein. Es interessiert mich mehr, anderen zu helfen, ihnen Ideen dafür zu geben, was sie auf der Bühne tun können, und mich um die Dramaturgie zu kümmern.

 

Was denkst du war dein größter Beitrag für das Theaterlabor? 

Es war meine Liebe, meine vollständige Hinwendung zu der Gruppe und der Idee.

 

Fällt dir eine besonders wichtige Episode aus den ersten Jahren eures Theaters ein?

Unsere erste Aufführung war inspiriert von Bulgakov's „Der Meister und Margarita". Die erste Version war schön, aber wir wollten noch eine machen. Die zweite Version wurde für uns wichtig, weil wir alle unsere Ideen einbrachten und dies ein wirklich gutes Resultat ergab. Wir hatten viele heftige Diskussionen. Es war ein Wendepunkt in der Beziehung zwischen Siegmar, unserem Regisseur, und dem Rest der Gruppe, und zwischen den Schauspielern selbst. Wir veränderten uns. Zuvor spielten wir und hatten Spaß, aber wir entschieden, dass das nicht genug war. Bulgakov sagte uns mehr. Die Entscheidung, ehrlich zu sein, war wichtig.

 

Worüber waren die Diskussionen?

Siegmar ist ein Regisseur, der beobachtet, und er mag es nicht, den Schauspielern zu sagen, was sie tun sollen, aber viele der Schauspieler wollten einen Regisseur, der ihnen sagte, was sie tun sollten. Siegmar ließ uns etwas zeigen, das er dann kommentierte. Wenn er jedem Schauspieler sagen sollte, was er zu tun habe, wäre der Prozess langweilig. Wir trafen die Entscheidung, dass von den Schauspielern Vorschläge kommen sollten und Siegmar dann die Komposition machen würde.

Wir waren allein hier in Bielefeld. Viele Leute sagten, dass wir ein bisschen verrückt waren. Wir hatten Angst, aber wir mussten selbst herausfinden, weshalb wir auf die Bühne gingen und was wir dort machen wollten. Das war wichtig für das Theaterlabor, und es ist einer der Gründe, warum wir noch immer existieren.

 

Begann deine persönliche Beziehung mit Siegmar zur gleichen Zeit wie das Theaterlabor?

Nein, sie kam später. Die ersten sechs Jahre, bis 1988, war ich schüchtern, und ich hatte einen Freund in einer anderen Stadt. Während der Woche arbeitete ich eine Menge, und einen Tag in der Woche nahm ich mein Auto und ging mit meinem Freund aus, und alles war prima. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu den anderen Schauspielern, wir waren Freunde. Dann verliebten sich Siegmar und ich, ich weiß nicht warum. Ich kämpfte fast zwei Jahre gegen diese Liebe. Ich wollte niemals eine Beziehung mit meinem Regisseur! Es wäre zu schwierig, es würde nicht funktionieren! Ich wollte es nicht! Nein! Nein! Nein! Von dem Augenblick an, als es die anderen wussten, war ich wie getrennt von ihnen. Ich war einsam. Zum Beispiel hielten sie mich nicht mehr über alles auf dem Laufenden. Es war in Ordnung, ich konnte sie verstehen. Ich denke, ich hätte auch so reagiert, denn es war, als hätte ich die Seiten gewechselt. Dieser einsame Weg war nötig. Obwohl es sehr hart war, erkenne ich jetzt rückblickend, dass es gut für mich war, um meinen eigenen Weg zu entdecken. Wäre das nicht passiert, wäre ich in meiner Mauerblümchen-Rolle geblieben oder ich hätte die Gruppe verlassen.

 

Wo fandest Du die Kraft?

Ich begann, mehr zu arbeiten. Ich entwickelte meine eigenen Ideen und Projekte im Theater, auch für die ganze Gruppe. Die Liebe mit Siegmar war stark und wir bekamen ein Kind.

 

War es schwierig, die Theaterarbeit und ein Kind zu bekommen zu verbinden?

Ja, es war sehr schwierig. Wir hatten eine Besprechung in der Gruppe gehabt, und hatten entschieden, dass, wenn jemand ein Kind wollte, wir versuchen sollten, zu helfen. Wir kannten die Schwierigkeiten in vielen anderen Gruppen. Ich hatte viele Frauen getroffen, die schwanger wurden und ihre Theater verlassen mussten. Wir reisten nicht so viel, weil wir hauptsächlich in Bielefeld arbeiten, deshalb war es einfacher für uns. Ich war die dritte Frau in der Gruppe, die ein Kind bekam, aber es war speziell, weil Siegmar und ich beide im Theater waren. Ich setzte nur sechs Wochen zum Stillen aus. Jetzt weiß ich, dass es nicht genug war. Nach sechs Wochen setzte Siegmar Hanno in den Snuggly und wir gingen zur Probe. Wir machten Pausen, wenn ich dem Baby Milch gab, und wir hatten Tausende von Babysittern. Viele Freunde und Siegmars Eltern mussten sich um Hanno kümmern.

Dann hatte ich zum ersten Mal Probleme mit meiner Gesundheit. Ich kümmerte mich um unser Zuhause, den Garten, ich kochte jeden Tag... Ich war wie viele andere Frauen in meiner Generation, die denken, sie können alles. Und alles ist zu viel. Ich dachte, ich sei stark und daran gewöhnt, sehr hart zu arbeiten. Ich hatte zehn Jahre im Theaterlabor gearbeitet und es war anstrengend gewesen, aber da war es nur das Theaterlabor gewesen. Jetzt, mit dem Kind, war es eine völlig neue Situation, die einen völlig anderen Raum brauchte. Wir mussten unser Haus bauen, ich wollte ein Zuhause für meinen Sohn schaffen. Es war zu viel. Jetzt denke ich, dass es besser gewesen wäre, ein Jahr zum Stillen auszusetzen. Aber ich hatte Angst, diese Pause zu machen.

 

Du hattest Angst, dass Du keinen Platz haben würdest, wenn du zurückkämst?

Ja, es war eine schwierige Situation. Ich hatte kein Vertrauen in mich selbst und darin, dass ich zurückkommen konnte. Ich passte nicht auf mich auf.

 

Was geschah?

Als Hanno drei Jahre alt war, hatten wir ein großes Projekt hier in Bielefeld zur Eröffnung eines Museums. Es war mein Projekt. Zwei Wochen vor der Premiere fühlte ich einen Knoten in meiner Brust. Ich dachte, ich würde die Premiere machen und dann zum Arzt gehen. Nichts konnte mich aufhalten, dieses Projekt zu machen. Dann nach zwei, drei Wochen stoppte mich dieser Krebs. Ich machte einen völligen totalen Stopp. Die anderen begannen, mit Yoshi Oida zu arbeiten, für Die Frau in den Dünen. Ich war neidisch, ich dachte, die anderen würden berühmt werden, ins Fernsehen kommen und ohne mich um die ganze Welt reisen und ich war darüber sehr wütend. Aber in wichtigen Momenten meines Lebens bin ich in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Ich konnte sagen, „O.K., jetzt höre ich auf". Und ich stoppte komplett für neun Monate. In der Zeit ging ich nur dreimal ins Theater. Ich saß hier zu Hause, draußen im Garten. Es war ein schöner Sommer. Ich dachte an das, was wichtig war: mein Sohn, mein Mann, ich selbst. Ich erkannte, dass ich einige Fehler gemacht hatte.

Im ersten Monat konnte ich mich nicht von meiner Aktivität im Theater trennen. Ich dachte, es sei unmöglich, aber ich hatte eine Menge Zeit, um darüber nachzudenken. Ich saß hier in diesem Sommer, Stunden und Stunden, allein. Niemand war hier. Ich las nicht. Ich tat nichts. Ich schaute in den Himmel, und es war gut. Nach ein paar Wochen dachte ich, ja es war an der Zeit, diesen Stopp zu machen. Es ist wichtig zu stoppen.

Dann fing ich an, andere Leute außerhalb des Theaterlabors wahrzunehmen. Es war schön. Die letzten zwei Jahre hatte ich den Rest der Welt ein bisschen vergessen, ich hatte nicht die Zeit. Mir wurde bewusst, dass das Leben nicht nur aus Theater bestand. Ich liebe Theater. Ich habe gelernt, wie man es macht, es ist mein Beruf, meine Leidenschaft, es ist wichtig für meine Verbundenheit mit Siegmar. Siegmar und ich sprechen stundenlang am Tag über Theater.

Dann beteiligte ich mich sehr langsam wieder an dem, was ich lieber Kunst nenne als Theater. Kunst ist mein Leben. Ich begann zu malen und zu schreiben. Ich ging in Museen und sah mir Installationen und Gemälde an. Meine Welt wurde größer, und gleichzeitig veränderte ich mich von einer Schauspielerin mehr zu einer Schöpferin von Projekten und Ideen. Meine Vorstellung von Theater veränderte sich. Ich erkannte, dass ich nicht nur eine Schauspielerin war, sondern eine Schauspielerin-und-und-und. Keine Sache ist wichtiger als eine andere. Mein Herz schlägt für Menschen, die Kunst machen, und für Kunst überall.

 

Hast du ein Stück, dem du dich besonders nahe fühlst?

Ja, es ist eins der letzten, das wir in 2001 machten. Es ist über Felix Nussbaum, einen jüdischen Maler, der in einer Stadt in der Nähe von hier geboren wurde, und der mit dem letzten Transport nach Auschwitz kam. Er malte sein Leiden. Siegmar, unser Sohn und ich gingen in ein Museum mit seinen Gemälden, fünfzig Kilometer von Bielefeld. Wir waren dort drei Stunden, und als wir herauskamen, sahen wir uns an und waren uns einig, dass wir das nächste Stück über ihn machen würden.

Nicht sehr viele Leute sahen es. Es war sehr schwierig, ohne Worte, mit starker Musik und bewegenden Bildern. Wir spielten es nur hier in Bielefeld, wir gingen nicht auf Tournee. Ich weiß nicht warum, aber niemand wollte es sehen.

Gemälde sind sehr wichtig für uns und in jedem Stück nehmen wir Bezug auf Maler. So wie Felix Nussbaum in seinen Gemälden von seinem Leben sprach, sprachen wir über ihn mit Bildern. Ohne eine besondere Regel versuchten wir, eine bestimmte Energie und eine spezielle Art der Bewegung zu schaffen. Es war besonders wichtig für mich, weil ich durch meinen Krebs in den letzten Jahren viele Probleme gehabt hatte, mich zu bewegen. Aber als ich diese Gemälde sah, berührten sie mich so tief, dass ich sofort eine Vorstellung hatte, wie ich mich bewegen wollte. In einer Szene machte ich einen Tanz. Die Bewegung war charakterisiert durch das Gesicht, die Hände, Arme und die Position der Finger. Die Bewegungen waren langsamer. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich weiß, dass es gut war!

 

Was wurde zentral nach dem Training der ersten Jahre?

Ich kann für mich sprechen, nicht für meine Kollegen. Wenn wir uns für ein Thema entscheiden, arbeite ich erst nicht viel, aber das Thema geht mir im Kopf herum. Ich brauche Zeit, ein, zwei, drei Wochen. Ich schaue nach Büchern. Ich höre unterschiedliche Musik und suche Melodien aus, die passend scheinen. Ich suche nach Bildern und Objekten und tue völlig andere Dinge, während das Thema in mir wächst. Dann treffen wir uns im Theater und machen eine Art Training. Wir gehen in einen leeren Raum und sind dort zusammen mit alldem, was wir mitbringen. Manchmal arbeiten wir nur allein, mit einer Idee einer Bewegung, die sich in Beziehung zu dem Thema findet. Es ist keine Rolle oder ein Charakter, der wichtig ist, sondern das Thema.

 

Als wir die Odyssee machten, arbeiteten wir mit dem ganzen Stück, und bei Barock bezogen wir uns auf die gesamte Barockperiode von 300 bis 400 Jahren. Das Thema geht von meinem Bewusstsein in meinen Körper. In den letzten Jahren war es wichtig für mich, mit den Möglichkeiten meines Körpers zu arbeiten, der nicht wirklich funktioniert. Die Tatsache, dass mein Körper eingeschränkt ist, war die interessante Herausforderung. Ich konnte meinen Rücken nicht gut bewegen, also musste ich versuchen, die Bewegung in einen anderen Teil meines Körpers zu verlagern, wie in mein Gesicht oder nur in einen Finger. Ich benutzte mein Handicap.

 

Brachte dich deine körperliche Einschränkung stärker zu Stimm- und Textarbeit?

Nein, der Krebs stahl meine Stimme. Von dem Moment an, als ich Krebs bekam, konnte ich nicht mehr singen. Vorher habe ich eine Menge gesungen, aber ich bekam Krebs und das Singen hörte auf. Es war einfach nicht möglich. Es war kein physisches Problem. Die Musik verschwand. Ich hatte kein Problem, Texte oder Gedichte zu sprechen, aber ich wollte nicht singen. Sogar als ich fünf Jahre später wieder anfing zu spielen, wusste ich, dass mein Singen weg war. Es war vorbei.

 

Vermisst du es?

Nein, ich weiß, dass es Schicksal war. Es ist wie es ist. Es war eine Art Preis.

 

Wie bist du zum Theater zurückgekehrt?

Nach neun Monaten fühlte ich mich sehr gut. Die anderen fingen an, eine Straßenperformance zum Thema „Barock" zu erarbeiten. Ich begann darüber nachzudenken, was „Barock" ist. Ich entdeckte den berühmten deutschen Dichter Andreas Gryphius. Ich las seine Gedichte und liebte sie. Sie sagten so viel über meine Erfahrungen in der letzten Zeit, weil er sich auf die Nähe von Leben und Tod konzentriert. Man muss das Leben nehmen solange es da ist. Morgen kann Leiden bringen. Morgen kannst du tot sein. Siegmar und ich nahmen viele Ideen aus der Barockzeit, um dieses Stück über den Dreißigjährigen Krieg, die Pest, Ludwig den Vierzehnten und Versailles zu schaffen.

Für mich war es gut, nach der Pause wieder in der Gruppe zu sein. Das Gefühl war anders. Die anderen gaben mir eine Menge Freiheit. Ich konnte sagen: „Ich kann keine Requisiten mehr tragen, ich kann nicht aufbauen, ihr müsst mir helfen." Sie antworteten, dass sie das würden, sie waren froh, dass ich da war, und sie wollten mir den Rücken stärken. Die Verbindung zwischen uns allen wurde besser. Sie wussten, dass ich in ihrem Alter war und dass es sein könnte, dass ich nächstes Jahr nicht mehr da sein würde.

Wir begannen zu proben und ich dachte darüber nach, was ich in dieser Performance machen sollte. Ich musste manche Szenen machen, Michael, Karin konnten sie nicht machen! Ich musste sie machen! Ich mag dieses Straßentheaterstück. Ich habe es letztes Jahr zum letzten Mal gespielt. Jetzt haben wir einige Rollen geändert, weil ich es nicht mehr schaffe. Wir haben es sehr oft auf Burgen in der Region gespielt. Es hat mir so viel Leben und Kraft gegeben. Es lehrte mich zu denken, morgen kannst du sterben, aber heute kannst du dich bewegen und genießen.

 

Das Wissen, dass nichts unendlich ist, gab dir Kraft?

Ja, das tat es. Als meine Freunde die Performance sahen, sagten sie „Angelika ist zurück". Ich war zwei oder drei Jahre lang ganz besonders lebendig während der Performance „Barock".

 

Fühlst du dich nun schwächer?

1994 ging es mir schlecht. Barock war 1995, und 1998 kam der Krebs erneut. Ich fühlte mich monatelang sehr müde und ging zum Arzt. Ich dachte: „Jetzt ist alles vorbei." War es aber nicht. Zwei Jahre lang hatte ich häufig Schmerzen. 1999 und 2000 musste ich dauernd zum Arzt. Das erste Mal als ich erkrankte, hatte ich eine neunmonatige Pause genommen. Beim zweiten Mal brauchte ich das nicht. Ich wollte arbeiten, um mein Leben zu leben. Mein Leben ist das Theater und alles andere war in Ordnung. Mein Familienleben funktionierte gut, Hanno war gesund und für mich war es nicht weiter schwierig. Ich hatte viel Hilfe. Es war einfach.

Ich war sehr traurig, sicher, weil ich wusste, dass ich unheilbar krank bin. Die ersten zwei Jahre habe ich sehr viel darüber nachgedacht, aber ich würde mein Leben nicht einfach aufgeben. Nein, jetzt würde ich erst recht leben.

Ich machte zwei Wochen Pause, nahm Medikamente – und arbeitete weiter. Und dann haben wir Odyssey gemacht.

Alles war sehr gut, und dann, nach zwei Jahren, kam der Krebs zurück. Bis letzten Juni hatte ich gedacht, ich hätte ihn besiegt. Fast fünf Jahre hatte ich mich gut gefühlt. Fünf sehr gute Jahre: mein Leben. Gut, es war manchmal mühsam, aber ich tat, was ich konnte und es war okay. Die Ärzte rieten mir, vorsichtig zu sein. Der Krebs könnte sonst wieder ausbrechen. Aber warum sollte ich über Dinge nachdenken, die im Moment so fern waren? Was sollte ich tun? Aufhören zu leben? Das stand außer Frage.

 

Fühlst du dich verantwortlich, weil du in jede Produktion eurer Gruppe involviert bist? Ich habe gehört, dass du gerade jemand anderem deinen Part in „Kamikaze" beibringst. Wie fühlst du dich dabei?

Das ist inzwischen kein Problem mehr. Nachdem wir Barock gemacht hatten, beschloss ich, bei keiner anderen Straßen-Produktion mehr mitzumachen, denn unsere Straßentheater sind wirklich anstrengend. Ich war dazu nicht länger in der Lage. Ich ging weg vom Spiel, hin zur Regie. Im Frühjahr habe ich zum ersten Mal bei einer Produktion mit jungen Schauspielern Regie geführt. Ich bin traurig über Odyssey oder Tanz an der Mauer. Kurz vorher hatte ich noch gedacht: Diese beiden Stücke möchte ich die nächsten Jahre nur noch spielen. Um die anderen Stücke tut es mir nicht so leid, das ist ok.

 

War die Regiearbeit eine neue Aufgabe für dich?

Ich glaube nicht, dass ich wirklich eine Regisseurin bin. Ich bin sehr weich und es war interessant für mich, mich selbst zu beobachten. Die Gruppe bestand aus sechs jungen Schauspielern, die mich schlicht liebten. Tatsächlich: Sie liebten mich! Es war eine einfache kleine Performance und wir trafen uns zwei- bis dreimal in der Woche. Wir arbeiteten gemeinsam an Text und Stimme. Wir mochten die Arbeit, weil wir uns mochten. 

Die anderen im Theaterlabor machten die gleiche Erfahrung. Jeder von uns hat in den letzten Jahren ein eigenes Projekt geleitet. Wir sind ja nur vier Schauspieler und können nicht ein Stück nach dem anderen produzieren. Das geht auf Kosten der Kreativität.

 

Hast du das Gefühl, dass der Krebs dir zum richtigen Blickwinkel auf die Dinge verholfen hat, dass du Probleme und Konflikte jetzt anders siehst? Klarer?

Probleme werden unwichtiger. Die meisten Probleme, die wir im Theaterlabor hatten, waren nicht essenziell. Mit Tom und Siegmar sind wir zu sechst. Nach zwanzig Jahren gemeinsamer Arbeit, sind wir ruhiger geworden. Als wir jung waren, konnten wir wochenlang darüber diskutieren, ob das Geld reicht oder wie wir unsere Stücke verkaufen. Heute weiß ich, dass es uns im Theaterlabor sehr gut geht. Wir sind reich! Keiner von uns braucht viel Geld. Es interessiert uns nicht so sehr. Wir alle sind Organisationstalente und so funktioniert unser Geschäft. Die Frage ist mehr, wie wir uns um unsere Arbeit kümmern.

Ich liebe Diskussionen. Ich genieße es, zu kämpfen. Thomas hasst das. Wenn ich anfange mit „Thomas, was hast du gemacht?", dann sagt er gleich „ Stopp, hör auf, ich möchte nicht mit dir streiten." Er weiß, dass ich streitbar bin. Ich kenne ihn und er kennt mich. Unsere Gruppe ist keine „große Familie", aber wir respektieren uns gegenseitig sehr und für mich ist das das Wichtigste. 

Ich hatte eine ganz besondere Position in den letzten Jahren. Ich konnte kommen und gehen, wann immer ich wollte. Ich hatte eine Menge Freiheiten. Niemand kann für Geld so eine Freiheit kaufen, wie ich sie in den letzten Jahren hatte. Ich bin meinen Kollegen sehr dankbar dafür.

 

Gibt es etwas, was du gerne noch tun würdest?

Ich hatte geplant, zu unserem zwanzigjährigen Bestehen ein Buch zu machen. Etwas selbst zu schreiben, aber auch Geschichten zu sammeln, Texte und Fotos. Das wäre mein Projekt für die nächsten Jahre gewesen. Dann, gerade gestern, als ich Mike Pearson's Performance sah, bekam ich den Wunsch, eine Solo-Performance zu machen. Ich wäre eine spezielle Art Schauspieler.

 

Dass du krank bist, schränkt also weder deine Wünsche, noch deine Ideen ein?

Nicht immer. Die letzte Woche war sehr schlimm. Ich hatte keine Ideen und ich wollte auch keine haben. Manchmal leide ich sehr unter den körperlichen Einschränkungen, aber dann überwinde ich sie, indem ich beispielsweise darüber rede oder ins Theater gehe. Häufig, wenn ich andere Performances sehe, bekomme ich neue Ideen, und auf dem Weg nach Hause reden Siegmar und ich, reden und reden. Ich gehe immer erst hin, kurz bevor das Stück anfängt, und bin danach auch immer schnell wieder weg. Ich möchte nicht so viele Menschen treffen, weil die Leute geschockt sind, wenn sie mich nach längerer Zeit wieder sehen.

Ich muss auf mich aufpassen. Ich bin sehr traurig, dass manches nicht mehr so geht wie früher, aber ich muss vorsichtig sein. Das ist das Leben.

Manchmal ist es nötig, Stopp zu sagen, einen ganz normalen, ruhigen Tag zu verbringen und einfach nur aus dem Fenster zu gucken. Von meinem Bett aus kann ich große Bäume sehen und Vögel. Manchmal kann ich stundenlang einfach nur die Vögel beobachten. Das ist gut, ich brauche das. Es ist wie eine Art Meditation, einfach ruhig zu sein.

Vor acht Wochen hatte ich große Angst. Ich fühlte mich krank und unser Festival näherte sich. Das war sehr hart, einige Tage lang, aber ich habe es überstanden. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Wir werden sehen. Das Leben geht immer weiter.

Ich bin müde. Die letzten zwei Wochen habe ich nie mehr als zwei Stunden pro Nacht geschlafen. Ich wollte einfach nicht die Augen zumachen. Ich weiß nicht, wie ich schlafen soll, aber ich habe keine großen Schmerzen. Ich bin seit neun Jahren in guter ärztlicher Hand. Es ist schon interessant… der Körper.

 

Gibt es etwas, das dir noch wichtig ist? Etwas, das noch in dieses Interview sollte?

Nein. Das waren zwanzig Jahre… Gestern Abend habe ich darüber nachgedacht, was wichtig sein würde, aber da ist so viel. Die wirklich wichtigen Dinge sind mit den Menschen verbunden, die einem begegnen und die man liebt. Die Liebe ist für mich ein ganz wichtiges Thema geworden, in diesen letzten Wochen. Auch in Bezug auf Kunst und Theater…

Menschen können nur deshalb wirklich im Theater aufgehen, weil sie lieben und geliebt werden. Menschen haben eine Seele.

Die Fragen, die ich mir jetzt stelle sind: Was kommt danach? Irgendetwas ist da. Jeder von uns hat eine Seele, da bin ich sicher. Wenn das nicht so wäre, gäbe es keine Theater. Warum? Es gäbe keinen Grund Theater zu machen, Künstler zu sein. Ein Künstler ist friedlich. Es ist gut, Kunst zu machen.